AAT #17 - Crossover mit Visionäre der Gesundheit

Oktober 2, 2025
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Jan

Telemedizin in Deutschland: Zwischen technologischen Möglichkeiten und systemischen Hürden

Ein Crossover-Podcast zwischen "Visionäre der Gesundheit" und "All About Telemedizin" beleuchtet den Status quo, kontroverse Entwicklungen und die Zukunft digitaler Versorgung

Die ernüchternde Realität hinter den Zahlen

Während der Corona-Pandemie schien Telemedizin endlich den Durchbruch in Deutschland zu schaffen. Videosprechstunden wurden zum Alltag, die Nutzung explodierte. Doch wie sieht es heute aus? In ihrem gemeinsamen Podcast-Crossover nehmen Inga Bergen und Jan Zeggel eine kritische Bestandsaufnahme vor – und die Ergebnisse sind durchwachsen.

Die Zahlen der Techniker Krankenkasse für 2024 zeigen zwar über 700.000 Videosprechstunden und einen Anstieg von 23 Prozent. Doch Jan Zeggel ordnet diese Zahlen nüchtern ein: Kumuliert über alle gesetzlichen Krankenkassen sprechen wir von etwa 3,5 Millionen Videosprechstunden pro Jahr. Im Vergleich zu fast 900 Millionen Arzt-Patienten-Interaktionen in der ambulanten Versorgung wird deutlich: "Wir reden im Grunde genommen de facto eigentlich über ein Nicht-Stattfinden der Telemedizin, wenn man das in der Gesamtschau anblickt."

Die Gemengelage: Vielfältige Zugangswege, fragmentierte Strukturen

Ein zentrales Problem der deutschen Telemedizin-Landschaft ist ihre Komplexität. Patienten können heute über verschiedene Wege digitale Gesundheitsangebote nutzen:

Der klassische Weg: Die eigene Hausärztin bietet Videosprechstunden für Bestandspatienten an – etwa für Befundbesprechungen oder Akutsprechstunden.

Der Krankenkassen-Weg: Apps der Versicherungen bieten Symptomchecker, telemedizinische Beratungen in verschiedenen Fachbereichen, direkte Krankschreibungen und E-Rezepte.

Der innovative Weg: Telemedizin-Boxen wie von MediVice ermöglichen assistierte Konsultationen mit integrierter Diagnostik – in Apotheken, Pflegeheimen oder sogar Hotels.

Diese Vielfalt klingt zunächst positiv, führt aber zu einem grundlegenden Problem: Jeder Akteur im Gesundheitssystem kämpft derzeit darum, die "Digital Front Door" zum Patienten zu sein. Krankenkassen, KVen, Plattformanbieter, Hausärztevereinigungen – alle entwickeln parallel eigene Lösungen. Jan Zeggel bringt es auf den Punkt: "Der Föderalismus lässt grüßen und das sorgt tatsächlich dafür, dass wir eine extrem heterogene Struktur haben."

Die technologische Revolution: Wenn das Smartphone zum Medizingerät wird

Besonders spannend wird es bei den technologischen Entwicklungen. Jan Zeggel wagt eine bemerkenswerte Prognose: "Unsere Prognose ist, wir werden eigentlich in fünf Jahren keine Medizintechnik mehr benötigen – also weder für Vitalparametermessungen noch für Blutuntersuchungen."

Was zunächst wie Science-Fiction klingt, hat bereits konkrete Anwendungsbeispiele:

  • Neko Health (gegründet vom Spotify-Gründer) scannt Menschen in Pods wie am Flughafen und ermittelt Blutwerte ohne Blutentnahme
  • Kameratechnologie ermöglicht Vitalwertmessungen über das bloße Anschauen in die Kamera
  • Augenhintergrundmessungen können Rückschlüsse auf Blutwerte geben
  • Voice Biomarker diagnostizieren Krankheiten anhand der Stimme
  • Apple investiert massiv in Health-Features für iPhone und Apple Watch

Diese Entwicklungen haben weitreichende Implikationen: Das handelsübliche Smartphone wird zum umfassenden Medical Device. Gleichzeitig entsteht aber, wie Inga Bergen anmerkt, eine "stille Revolution" – eine Parallelgesellschaft der Gesundheitsversorgung, die weitgehend unabhängig von etablierten Strukturen funktioniert.

Die kontroverse Debatte: Direct-to-Patient-Angebote

Ein besonders heikles Thema sind Direct-to-Patient-Telemedizin-Angebote pharmazeutischer Unternehmen. Auslöser der Podcast-Diskussion war ein LinkedIn-Post von Inga Bergen über die Plattform übergewicht.de – ein Angebot zur Adipositas-Beratung mit anschließender möglicher Verschreibung von GLP-1-Agonisten (umgangssprachlich "Abnehmspritzen").

Die Diskussion zeigt exemplarisch die Zerrissenheit des Systems:

Die Kritik: Pharmazeutische Unternehmen bieten direkt Konsultationen für ihre eigenen Medikamente an – ein potenzieller Interessenkonflikt.

Die Realität: Viele Menschen mit Adipositas finden keine adäquate Versorgung. Inga Bergen berichtet von einer Person, die zu fünf Ärzten ging und überall zu hören bekam: "Wollen Sie den bequemen Weg gehen, essen Sie einfach mal weniger." Dies trotz Prädiabetes und Gelenkproblemen.

Jan Zeggel betont den Unterschied: "Wir vermitteln Patienten zu Ärzten, ja, und das wird so heftig angegriffen und da sind draußen Plattformen, die verdienen Millionen Euro im Monat damit, dass sie fragebogenbasierte Rezepte ausstellen und in den Markt drücken."

Tatsächlich geht es bei seriösen Angeboten um spezialisierte ärztliche Beratung durch Ärzte mit deutscher Zulassung, die in eigener Verantwortung entscheiden – nicht um automatisierte Rezeptausstellung. Die Alternative sind oft fragwürdige Plattformen, die ohne echte medizinische Konsultation Medikamente verschreiben.

Das EU-Herkunftslandprinzip: Eine regulatorische Zeitbombe

Eine kaum beachtete Entwicklung könnte die deutsche Telemedizin-Landschaft fundamental verändern: Seit kurzem gilt das EU-Herkunftslandprinzip. Das bedeutet: Ein Arzt in Irland kann nach irischen Standards telemedizinisch behandeln – auch deutsche Patienten. In Irland sind fragebogenbasierte Rezepte für viele Indikationen legal, die in Deutschland aus guten Gründen verboten sind.

Jan Zeggel warnt: "Wir haben eine völlig neue Ausgangssituation seit drei Wochen, redet aber gar keiner drüber. Habe ich auch aus dem BMG noch gar nichts dazu gehört, wie eigentlich damit umgegangen wird."

Die Konsequenz: Deutsche Unternehmen investieren Millionen in Datenschutz, IT-Sicherheit und regulatorische Compliance, während ausländische Anbieter mit niedrigeren Standards und Lohnkosten in den deutschen Markt drängen können. Eine Wettbewerbsverzerrung mit potenziell gravierenden Folgen für Qualität und Patientensicherheit.

Die Zukunft: Zwischen Vision und Verzweiflung

Trotz aller Herausforderungen sehen beide Gesprächspartner wichtige Entwicklungen:

Telepflege und Patient Monitoring: Fast eine Million Menschen in Pflegeeinrichtungen und fünf Millionen, die zu Hause gepflegt werden, könnten massiv profitieren. Doch die Vergütung fehlt – Pflegekräfte haben heute keinen Anreiz, Televisiten zu organisieren.

Apotheken als Versorgungsknotenpunkte: Diagnostik, Impfungen, Bluttests und assistierte Telemedizin in Apotheken werden zunehmen. Gesundheit kommt dorthin, wo Menschen sind – auch in Supermärkte und Drogeriemärkte, wie das Beispiel dm zeigt.

KI als Clinical Decision Support: Speech-to-Documentation-Tools sind bereits "Commodity geworden". Die nächste Stufe sind umfassende klinische Entscheidungsunterstützungssysteme.

Integrierte Notfallversorgung: Telenotarzt-Systeme sind fast flächendeckend etabliert und zeigen, wie Telemedizin sinnvoll funktionieren kann.

Doch der größte Roadblocker bleibt die Vergütung. Videosprechstunden werden mit 30 Prozent Abschlag gegenüber Präsenzkonsultationen vergütet – bei gleicher Leistung. Telemonitoring wird nur bei Herzinsuffizienz erstattet, obwohl es für viele weitere Indikationen nachweislich funktioniert.

Jan Zeggel bringt seine Frustration offen zum Ausdruck: "Manchmal bin ich wirklich verzweifelt an der Stelle, weil du siehst ja, dass es funktioniert, dass es Lösungen gibt und wir fangen immer wieder an, in irgendwelchen Hinterzimmergremien dann die Verordnung zu erlassen."

Die Generation Z als Gamechanger

Ein oft übersehener Aspekt: Die neue Patientengeneration hat ein völlig anderes Verhältnis zu digitaler Gesundheit. Inga Bergen verweist auf aktuelle Trends: "Die Generation Z jetzt ChatGPT als Dermatologen benutzt." Google Traffic im Bereich Gesundheit "schmiert gerade komplett ab, weil die Leute nur noch KI nutzen, um Gesundheitsfragen zu besprechen."

Diese Generation erwartet:

  • Niedrigschwelligen Zugang zu Gesundheitsinformationen
  • Spezialisierte Expertise auf Abruf
  • Nahtlose digitale Erfahrungen
  • Keine Trennung zwischen "analoger" und "digitaler" Medizin

Die etablierten Strukturen sind auf diese Erwartungshaltung nicht vorbereitet.

Das Arzt-Bild im Wandel: Vom freien Beruf zum Uber-Fahrer?

Eine zentrale Sorge betrifft die Rolle der Ärzteschaft. Werden niedergelassene Ärzte durch plattformbasierte Telemedizin zu "Uber-Fahrern der modernen Versorgung"? Verlieren sie ihre Autonomie an Plattformanbieter?

Jan Zeggel hält dagegen mit einem liberalen Argument: Telemedizin unterliegt strenger Regulatorik. Nur Ärzte mit deutscher Niederlassung können im Rahmen der Regelversorgung Rezepte ausstellen und über Kassen abrechnen. Sie müssen Öffnungszeiten vor Ort gewährleisten. Aber warum wird der Anteil der telemedizinischen Fälle überhaupt reglementiert? "Das ist ein freier Beruf. Warum lassen wir nicht die Ärztinnen und Ärzte entscheiden, wie viele Patienten sie auf welchem Weg behandeln wollen? Weil die wissen es doch gut."

Interessanterweise berichten Hausärzte, die Telemedizin konsequent einsetzen, durchweg positiv über die Veränderung der Arzt-Patienten-Beziehung. Stefan Spieren etwa erzählte, er müsse sich "was einfallen lassen, dass die Patienten wieder bei ihm in die Praxis kommen", weil sie Videosprechstunden so sehr schätzen – über alle Alterskohorten hinweg.

Investitionswüste Deutschland

Die regulatorische Unsicherheit hat reale wirtschaftliche Konsequenzen: Investments in Health-Tech-Unternehmen in Deutschland sind "massiv runtergegangen". Andere Länder werden Deutschland überholen, weil Investoren keine stabilen Rahmenbedingungen sehen.

Die Ironie: Deutschland investiert Millionen in die "richtige" Regulierung, schreckt damit aber Investoren ab und öffnet gleichzeitig durch das EU-Herkunftslandprinzip die Tür für weniger regulierte ausländische Anbieter.

Fazit: Zeit für einen Paradigmenwechsel

Die Podcast-Diskussion offenbart ein fundamentales Dilemma: Deutschland verfügt über technologisches Know-how, innovative Unternehmen und motivierte Akteure im Bereich Telemedizin. Gleichzeitig verhindern strukturelle Probleme, Vergütungshürden und regulatorische Unsicherheit, dass sich evidenzbasierte Lösungen in der Breite durchsetzen.

Die wichtigsten Erkenntnisse:

  1. Telemedizin ist Medizin: Die künstliche Trennung zwischen "analoger" und "digitaler" Versorgung muss überwunden werden. Hybride Modelle sind die Zukunft.
  2. Patientenzentrierung fehlt: Während Akteure um die "Digital Front Door" kämpfen, entwickelt sich parallel eine nutzergetriebene Parallelgesellschaft der Gesundheitsversorgung.
  3. Vergütung ist der größte Hebel: Solange Videosprechstunden mit 30 Prozent Abschlag vergütet werden und Telemonitoring kaum erstattet wird, bleiben die Anreize falsch gesetzt.
  4. Regulatorische Wettbewerbsverzerrung: Das EU-Herkunftslandprinzip bedroht deutsche Qualitätsstandards und benachteiligt hiesige Anbieter.
  5. Technologie überholt Strukturen: In fünf Jahren könnte das Smartphone alle relevanten Vital- und Labordaten erfassen – aber unsere Prozesse und Vergütungssysteme sind darauf nicht vorbereitet.
  6. Demografie erzwingt Handeln: Bis 2030 werden zwölf Millionen Menschen keinen Hausarzt mehr haben. Telemedizin ist keine Option, sondern Notwendigkeit.

Der Handlungsappell von Jan Zeggel zum Abschluss ist klar: Patienten haben mehr Macht, als sie denken. Wer bei seiner Ärztin aktiv Videosprechstunden einfordert, erzeugt Druck im System. Und vielleicht sollten wir aufhören, Telemedizin als "Sonderform" zu behandeln – denn wie ein Podcast-Hörer treffend formulierte: "Telemedizin ist Medizin."

Die Frage ist nicht mehr, ob sich digitale Versorgung durchsetzt, sondern wer sie gestaltet: etablierte Akteure mit Qualitätsanspruch oder unregu­lierte Plattformen aus dem Ausland. Die Zeit für einen echten Paradigmenwechsel läuft ab.

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Seit 2014 leisten wir Pionierarbeit auf dem Gebiet der Telemedizin und entwickeln gemeinsam mit Partnern starke Lösungen für neue, digital-gestützte Versorgungsformen und Patientenpfade. Basierend auf unseren langjährigen Erfahrungen begleiten und beraten wir Leistungserbringer und andere Stakeholder aus dem Gesundheitswesen, wie z.B. Krankenkassen, Versicherungen, Apotheken und Medizinprodukte-Hersteller, bei der Erarbeitung und Implementierung von telemedizinischen Lösungen für eine effizientere Versorgung von Patient:innen.

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