
AAT #16 Telepflege, Digitalisierung und KI: Game Changer in der Pflegekrise
Einleitung
In der 16. Folge unseres Podcasts "All About Telemedizin" diskutierte Host Jan Zeggel mit Sascha Platen, Head of Consulting bei myneva, über das immense Potenzial digitaler Lösungen für den Pflegesektor. Die Diskussion offenbarte nicht nur die dramatische Situation der Pflege in Deutschland, sondern zeigte auch konkrete Wege auf, wie Telepflege, Digitalisierung und KI als echte Game Changer wirken können. Dieser Blog-Beitrag fasst die wichtigsten Erkenntnisse zusammen.
Die aktuelle Pflegesituation in Deutschland
Die Pflegesituation in Deutschland ist nicht nur angespannt – sie ist katastrophal. Über 5,5 Millionen Menschen haben bereits Anspruch auf Pflegeleistungen, und die Zahl wächst rasant. Gleichzeitig fehlen schon jetzt Pflegekräfte, und bis 2030 werden es voraussichtlich 500.000 sein. Allein im Januar 2024 meldeten über 50 Pflegedienste Insolvenz an.
Sascha Platen betont: "Wir müssen uns von dem Wort Prognose verabschieden. Die Situation ist sehr, sehr schlecht und sie wird immer verheerender." Er kritisiert den Fokus auf zukünftige Entwicklungen, während die aktuelle Krise nicht angemessen adressiert wird: "Ohne den großartigen Einsatz der Angehörigen in der Pflege wäre das System auch schon längst zusammengebrochen."
Haupthindernisse für die Digitalisierung in der Pflege
Als größtes Hindernis für Fortschritte im Pflegesektor identifiziert Sascha Platen die überbordende Bürokratie:
- Enorme Dokumentationspflichten, teilweise unterschiedlich in allen 16 Bundesländern
- Mangelnde digitale Infrastruktur in Pflegeeinrichtungen
- Komplizierte Genehmigungsverfahren für einfache Maßnahmen wie WLAN-Installation
- Fehlende Standards für strukturierte Daten
"Wenn ich keine digitale Infrastruktur habe, kann ich auch nicht digitalisieren," fasst Platen zusammen. Im Gegensatz zu anderen Ländern fehlt in Deutschland oft die grundlegende technische Basis für Innovationen.
Internationale Vorbilder
Der Blick ins Ausland zeigt, dass es auch anders geht. Besonders Finnland wird als Vorbild genannt:
"Vitalparametermessungen, Blutzucker, Blutdruck und so weiter, ist dort Standard, dass das durch Wearables funktioniert," berichtet Platen. Trotz geringerer Bevölkerungsdichte und größeren Distanzen gelingt es dort, eine bessere Pflegeversorgung zu gewährleisten.
Bemerkenswert ist auch der Umgang mit Patientendaten: Während in Deutschland die elektronische Patientenakte mit Widerspruchsrecht diskutiert wird, setzen andere europäische Länder selbstverständlich auf strukturierte Daten und einheitliche Standards. Platen berichtet von der verblüfften Reaktion internationaler Kollegen auf die deutsche Datenschutzdebatte: "Die haben mich alle am Tisch angeguckt, als wäre ich nicht normal."
Konkrete digitale Lösungen
Sprachdokumentation (Speech-to-Text)
Die Dokumentation ist einer der größten Zeitfresser im Pflegealltag. Moderne Spracherkennungssysteme können hier erhebliche Erleichterung bringen:
"Bei den Einrichtungen, wo wir zum Beispiel auf Speech-to-Text setzen, können wir schon zweistellige Prozentraten an Arbeitsintensität der Dokumentation reduzieren," berichtet Platen aus der Praxis.
Vitalparameter-Monitoring durch Wearables
Die Messung von Vitalparametern wie Blutzucker oder Blutdruck bindet viel Personal, das für andere Aufgaben fehlt. Wearables können hier Abhilfe schaffen:
"Die Messung von Blutzucker, anderen Vitalparametern wie Blutdruck, das darf es einfach in Zukunft nicht mehr in der Breite geben, dass da jemand hinfahren muss und es macht," fordert Platen. In Ländern wie Finnland oder Spanien ist dies bereits Realität.
Telepflege-Kommunikation
Digitale Kommunikationstools ermöglichen den regelmäßigen Kontakt mit Pflegebedürftigen, ohne dass jedes Mal eine physische Anwesenheit notwendig ist:
"Eine Lösung, die offensichtlich verhindert, dass ein ambulanter Pflegedienst immer wieder zu den Angehörigen rausfahren muss (...) weil einfach Kommunikation schon möglich ist. Jede Fahrt, die ich da nicht machen muss, kann ich wieder einen anderen Pflegebedürftigen versorgen," erläutert Platen am Beispiel von Vivaicare.
Sturzerkennungssysteme
Stürze gehören zu den häufigsten Unfällen bei älteren Menschen. Digitale Lösungen können hier helfen:
"Nehmen wir Sturzerkennung. Lindera, Sturzprophylaxe, aber auch Sturzerkennungssysteme wie Libicare und so weiter. All diese Lösungen sind am Markt und könnten sofort eingesetzt werden."
Telemedizinische Intervention
Die Kombination aus Vitaldatenerfassung und telemedizinischer Konsultation ermöglicht schnelle Interventionen bei Auffälligkeiten:
"Es gibt einen Anruf und [die Frage] 'Es geht Ihnen gut, ist hier eine Fehlermeldung, sollen wir jemanden vorbeischicken?'" berichtet Platen von Pilotprojekten in Berlin und Süddeutschland, die zeigen, dass so unnötige Krankenhauseinweisungen vermieden werden können.
Ökosystem und Datenaustausch
Eine der Herausforderungen ist die Integration der verschiedenen Einzellösungen in ein funktionierendes Gesamtsystem. Der Markt für Pflegesoftware ist stark zersplittert:
"Der Markt ist ja noch so zersplittert, dass wir von dem Ökosystem in der Breite gar nicht sprechen können. Die 30 größten haben, ich glaube, 14 bis 16 Prozent Marktanteil in Summe."
Platen sieht die Primärsoftwareanbieter als zentrale Akteure für die Datensammlung und -verarbeitung, da in den meisten Pflegeeinrichtungen keine eigenen IT-Abteilungen existieren. Gleichzeitig fordert er mehr Offenheit:
"Es kann nicht sein, dass wir sagen, okay, wir wollen all diese Digitalisierung, das ist alles wunderschön und diese Telepflege. Und die letzten Jahre haben sich auch viele Primärsoftwareanbieter halt gegen die Startups gesperrt oder gegen die tollen digitalen Lösungsanbieter."
Forderungen an die Politik
Sascha Platen richtet klare Forderungen an die Politik:
- Investitionen von 6-7 Milliarden Euro in die Digitalisierung der Pflege
- Massive Entbürokratisierung für Neubau und Digitalisierung
- Überarbeitung der Anforderung "wohnortnaher Versorgung" für Telemedizin, die besonders in ländlichen Regionen unrealistisch ist
Er kritisiert scharf, dass in den aktuellen Sondierungspapieren kaum etwas zum Thema Pflege zu finden ist: "Zu Pflege liest sich in den Sondierungspapieren so gut wie gar nichts. [...] Wenn ich das ehrlich sage, das Einzige was noch angekündigt wird, ist den Zuschuss zur Pflegeversicherung ab 2027 variabel zu machen."
Seine düstere Prognose: "Das Problem ist noch beherrschbar, wir könnten noch etwas tun, aber ich glaube, dass die kommenden drei Jahre die entscheidenden sind, sonst droht uns ab 2030 der Zusammenbruch."
Fazit
Die Diskussion zwischen Jan Zeggel und Sascha Platen zeigt deutlich: Die technischen Lösungen für viele Probleme im Pflegebereich existieren bereits heute. Studien belegen, dass bis zu 34% der Arbeitszeit in der stationären Pflege durch den konsequenten Einsatz digitaler Tools eingespart werden könnten.
Was fehlt, sind nicht die Innovationen, sondern der politische Wille zur Umsetzung, der Abbau bürokratischer Hürden und ausreichende Investitionen in die digitale Infrastruktur. Der Blick ins Ausland zeigt, dass selbst in dünn besiedelten Regionen eine effiziente Pflegeversorgung möglich ist – wenn die richtigen digitalen Werkzeuge eingesetzt werden.
Die Telepflege könnte ein echter Game Changer sein, um dem Pflegenotstand entgegenzuwirken. Dafür müssen wir jedoch jetzt handeln, die verfügbaren Lösungen konsequent einsetzen und die notwendigen Rahmenbedingungen schaffen. Nur so kann verhindert werden, dass das Pflegesystem in Deutschland in den kommenden Jahren vollständig kollabiert.
Die gesamte Diskussion können Sie in der 16. Folge unseres Podcasts "All About Telemedizin" nachhören, verfügbar auf allen gängigen Podcast-Plattformen.

Jan Zeggel ist geschäftsführender Gesellschafter der arztkonsultation ak GmbH. In dieser Rolle verantwortet er die Etablierung des Familienunternehmens als führender Software-Anbieter für die Telemedizin. Zudem ist er Initiator und Mitgründer der Open Healthcare Alliance (OHA) und begleitet ehrenamtlich Startups in der Gründungs- sowie Aufbauphase. Zuvor war Jan Zeggel als Geschäftsführer und Advisor für Beratungs- sowie Software-Unternehmen tätig.