„Das Modell ist praxistauglich“
Dr. Markus Haun über das Forschungsprojekt PROVIDE
Seit 2016 untersucht das Universitätsklinikum Heidelberg im Projekt PROVIDE, wie Videokonsultationen den Zugang zu psychotherapeutischer Behandlung verbessern können. Wir unterstützen PROVIDE mit unserer und wollen jetzt in Erfahrung bringen, wie das Projekt vorangeht. Per E-Mail haben wir dafür den Leiter der Forschungsgruppe, Dr. Markus Haun, befragt.
„Psychotherapie per Videokonsultation funktioniert“ – unter dieser Überschrift hat das Deutsche Ärzteblatt Ihre aktuelle Machbarkeitsstudie vorgestellt. Herr Dr. Haun, was steckt hinter dieser Zuspitzung?
Dr. Haun: In unserer Machbarkeitsstudie wurden Videokonsultationen durch Psychotherapeut*innen bei in der Hausarztpraxis vorstelligen Patient*innen mit Depression und/oder Angst untersucht – unseres Wissens nach erstmals in einer deutschen Studie. Es ging zunächst um die Frage, ob dieses Versorgungsmodell unter organisatorischen und technischen Aspekten praktikabel und sicher durchführbar ist. Auf der Basis von 50 Patient*innen, die in die Studie eingeschlossen wurden und 102 erfolgreich durchgeführten von 108 geplanten Videokonsultationen lässt sich sagen: Videokonsultation durch Psychotherapeut*innen sind auf diesem Weg gut machbar und sicher durchführbar!
Psychotherapeutische Gespräche finden bei PROVIDE in der Hausarztpraxis statt. Der behandelnde Psychotherapeut wird mithilfe von arztkonsultation.de in die Praxis zugeschaltet. Warum bleiben Ihre Patienten nicht zuhause?
Dr. Haun: Auf Basis des derzeitigen Forschungsstandes und unserer klinischen Erfahrung ist davon auszugehen, dass die vertraute Atmosphäre der Hausarztpraxis, die häufig langjährige Beziehungen zwischen Patient*innen und Mitgliedern des Praxisteams beinhaltet, einen eigenständigen Wirkfaktor im Sinne von Entängstigung und Entstigmatisierung darstellt. Die Hausarztpraxis „wirkt“ sowohl im Hinblick darauf, Patient*innen, die sonst schwer in spezialisierte psychosoziale Versorgung kommen, zu erreichen als auch diesen Patient*innen effektiv klinisch zu helfen. Auch können durch die Sicherstellung einer stabilen Internetverbindung in der Hausarztpraxis Patient*innen an unserer Studie teilnehmen, die zuhause nicht die technischen Voraussetzungen haben, Videokonsultationen durchführen zu können.
Inzwischen ist die dritte Phase des Projekts, genannt PROVIDE-C, angelaufen. Welche Erkenntnisse wollen Sie in der finalen Runde sammeln?
Dr. Haun: In der Hauptstudie PROVIDE-C geht es nun darum, auf Basis einer größeren Zahl von Patient*innen, welche die o.g. Videokonsultationen erhalten, statistisch belastbar zu bestimmen, ob unser Modell im Vergleich zur üblichen Versorgung durch die/den Hausärzt*in noch bessere Ergebnisse in Bezug auf Symptomlinderung, Lebensqualität und Teilhabe am sozialen Leben erzielt.
Dafür suchen Sie noch niedergelassene Allgemeinmediziner, die ihr Projekt unterstützen. Welchen Beitrag können die teilnehmenden Hausärzte leisten?
Dr. Haun: Teilnehmende Hausärzt*innen erhalten eine dem stationären Konsiliarmodell vergleichbare Behandlungsmöglichkeit durch Psychotherapeut*innen für Ihre Patient*innen direkt in der Praxis. Dafür werden ein geschützter Raum und eine Internetverbindung benötigt. Die Patient*innen, die belastet erscheinen, werden durch die Hausärzt*innen auf unsere Studie hingewiesen. Die weiteren Schritte führen wir mit der/dem jeweiligen Patient*in durch. Während der videobasierten Behandlung erhält die/der Hausärzt*in Rückmeldung zum Behandlungsverlauf durch die/den Psychotherapeut*in. Interessierte Hausärztinnen und Hausärzte sind eingeladen, sich jederzeit bei uns zu melden (Bitte Mail an: provide.project@med.uni-heidelberg.de).
Mit Corona ist die Videosprechstunde in der Psychotherapie angekommen und seitdem in tausenden Praxen Normalität geworden. Inwiefern spielt Ihnen diese Entwicklung in die Karten?
Dr. Haun: Wir erleben, dass Hausärzt*innen niederschwelliger Patient*innen ansprechen, ob sie sich eine Behandlung nach unserem Modell vorstellen können. Es ist nicht unplausibel, dass dieser Entwicklung nun eigene Erfahrungen mit Videokonsultationen oder auch mit Videotelefonie im privaten Bereich zugrunde liegen. Insgesamt sehen Patient*innen wie Professionelle nun noch besser, welche Vorteile Videokonsultationen Patient*innen bieten, die immobil sind (bspw. wg. Quarantäne oder körperlichen Begleiterkrankungen), in ländlichen Gebieten wohnen und/oder anderweitig häuslich gebunden sind (bspw. wegen Betreuung von Kindern oder der Pflege von Angehörigen).
Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) fördert PROVIDE noch bis 2021. Wie geht es danach weiter? Wie verhindern Sie, dass ihr Konzept in der Schublade verschwindet?
Dr. Haun: Im Gegensatz zu vielen rein klinischen Studien ist PROVIDE seit Beginn sehr stark in der ambulanten Versorgungspraxis verankert. Wir haben mit Patient*innen, Hausärzt*innen und Psychotherapeut*innen sowie gesundheitspolitischen Entscheidungsträgen (bspw. Krankenkassen) den Bedarf erhoben und gemeinsam das Modell entworfen. Die bisherigen Ergebnisse weisen klar daraufhin, dass dieses Modell praxistauglich ist, von Patient*innen gut angenommen und Patient*innengruppen erreicht, die bisher nicht den Weg in spezialisierte Versorgung gefunden haben. Wir sind vorsichtig optimistisch, dass das Modell nach unserer Wirksamkeitsstudie für regionale Modellvorhaben vorschlagen werden kann. Das ist in jedem Fall unser erklärtes Ziel, sollte sich das Modell als effektiv erweisen.
Warum setzen Sie im Projekt PROVIDE auf die Videosprechstunde arztkonsultation.de?
Dr. Haun: Wir haben uns zu Beginn verschiedene Videodienstanbieter angesehen und waren bzw. sind von der Freundlichkeit, der niederschwelligen Erreichbarkeit des Services sowie insbesondere der Offenheit für unseren Forschungskontext von arztkonsultation.de überzeugt. Im Verlauf unseres Projektes geht arztkonsultation.de stets maßgeschneidert auf sich ergebende Anfragen ein, sodass die optimale Usability für Patient*innen und Kliniker*innen gewährleistet ist. Wir sind froh, einen so verlässlichen Partner gefunden zu haben.
Sie beschäftigen sich schon viele Jahre mit den Möglichkeiten der Telemedizin. Wie oft wurden Sie belächelt?
Dr. Haun: Es ist sicherlich so, dass die COVID-19 Pandemie sehr dazu beiträgt, dass videobasierte Versorgung die Aufmerksamkeit bekommen hat, die ihr meiner Ansicht nach zusteht. Vor dem Hintergrund einer alternden Gesellschaft und zunehmendem Fachkräftemangel ist zu erwarten, dass technologiegestützte Behandlungsansätze die dringend benötigte Flexibilität in der Gestaltung der Versorgung leisten können. Viele Spezialist*innen lassen sich nun einmal in Ballungsräumen nieder – Videokonsultationen bieten eine Möglichkeit, die entsprechende Expertise auch in entlegenere Gebiete zu bringen bzw. bisher marginalisierte Patient*innengruppen zu erreichen.
Was sagen Sie Kollegen, die immer noch nicht von der Videosprechstunde überzeugt sind?
Dr. Haun: Videokonsultationen sind sicherlich kein Allheilmittel und Herausforderungen (etwa die fehlende Körperlichkeit und höhere Ermüdung am Bildschirm) sollten ernstgenommen und adressiert werden. Demgegenüber stehen jedoch die o.g. gewichtigen Vorteile. Skeptische Kolleg*innen lade ich stets ein, Videokonsultationen auszuprobieren, sich selbst ein Bild zu machen und Patient*innen anzuhören, für die dieser Behandlungsweg, neben dem klassischen Behandlungsrahmen, oft eine enorme Erleichterung darstellt.
Weitere Informationen über PROVIDE sowie eine Möglichkeit zur Kontaktaufnahme finden Sie unter .
19. Feb. 2021